Entwicklung einer realitätsnahen Rollwiderstandsmessprozedur basierend auf realen Fahrzyklen bei Elektrofahrzeugen

abgeschlossen

Motivation

Weltweit gibt es heute fast 1 Milliarde Kraftfahrzeuge, davon sind 700 Millionen Pkw. Diese Zahl wird sich voraussichtlich bis spätestens 2030 verdoppeln. Damit bleibt die Reduktion der verkehrsbedingten CO2-Emissionen weiterhin eine Herausforderung. Deshalb erklärte die Bundesregierung 2007 die Förderung der Elektromobilität zu einem entscheidenden Baustein zur Erreichung ihrer Klimaschutzziele.

Der Energiebedarf eines Fahrzeugs resultiert aus der Überwindung dissipativer Fahrwiderstände, welche sich hauptsächlich aus dem Luftwiderstand, dem Rollwiderstand, den inneren Fahrwiderständen des Fahrzeugs und den über den Heizbedarf hinausgehenden thermischen Verlusten bei der Energiewandlung zusammensetzen. Durch die guten Wirkungsgrade im Antriebsstrang eines E-Fahrzeugs sind hier hauptsächlich der Rollwiderstand und der Luftwiderstand als Hauptbestandteil des Fahrwiderstandes anzusehen.

Eine am Institut für Fahrzeugsystemtechnik des KIT durchgeführte Studie analysierte das Fahrprofil einer Vielzahl von Fahrten mit über 100 Elektrofahrzeugen. Diese ergab eine hauptsächliche Nutzung im innerstädtischen Bereich, geprägt durch ein niedriges Geschwindigkeitsniveau und viele Stop&Go-Phasen. Bei diesem Nutzungsverhalten ist der Luftwiderstand als eher zweitrangig anzusehen. Hierdurch ergibt sich für Elektrofahrzeuge die besondere Bedeutung des Rollwiderstands, der einen hohen Einfluss auf die Reichweite dieser Fahrzeuge hat. Die Steigerung der Reichweiten wird jedoch vom Markt gefordert. Die Ermittlung des Rollwiderstands eines PKW-Reifens, welcher auch als Grundlage für das EU-Reifenlabel dient, erfolgt nach ISO 28580. Hierbei wird der Rollwiderstand bei 80 km/h nach einer Aufwärmdauer von 30 Minuten ermittelt. Die Messung erfolgt hierbei auf einem Außentrommelprüfstand. Diese Messung unterscheidet sich in einigen Punkten von einer Messung auf einer realen Straße. So wird zum Beispiel auf einer gekrümmten Trommelfahrbahn gemessen, welche zudem keine Fahrbahnrauigkeit, sondern eine glatte Stahloberfläche aufweist. Zudem tritt bei einer Prüfstandmessung keine Anströmung durch kühlenden Fahrtwind auf. Trotz alledem ist die Messung des Rollwiderstands am Prüfstand unverzichtbar, da nur hier reproduzierbare Rollwiderstandsmessungen hoher Genauigkeit möglich sind.

Die Literatur, aber auch institutsinterne Messungen belegen den Einfluss der Reifentemperatur und der Fahrgeschwindigkeit auf den Rollwiderstand. So besitzt ein kalter Reifen bei Umgebungstemperatur einen um bis zu 30 % höheren Rollwiderstand als derselbe Reifen nach einer Warmfahrzeit von 30 Minuten bei 80 km/h. Auch weist ein Reifen bei einer Geschwindigkeit von 40 km/h einen anderen Rollwiderstand auf als bei einer Messung nach ISO. Gerade im Hinblick auf die deutlich niedrigeren Geschwindigkeiten der elektrofahrzeugtypischen Fahrprofile, im Vergleich zur Messgeschwindigkeit nach ISO, und der Stop&Go-typischen Standphasen, welche eine Abkühlung der Reifen zu Folge haben, ergeben sich deutliche Unterschiede zwischen realem Fahrbetrieb und der Prüfprozedur nach Norm. Es zeigt sich, dass Reifen im realen Fahrbetrieb von Elektrofahrzeugen ganz anderen Temperaturen und Geschwindigkeiten unterworfen sind, als in der ISO-Norm als Prüfbedingungen festgelegt. Eine Rollwiderstandsmessung nach ISO 28580 gibt deshalb keinen exakten Aufschluss über den zu erwartenden Rollwiderstand von Elektrofahrzeugen in realen Fahrzyklen.

Vorgehensweise und Zielsetzung

1. Messungen mit Versuchsfahrzeugen

Im Rahmen des Projektes sollen in einem ersten Schritt die für den Rollwiderstand charakteristischen Reifentemperaturen im Realverkehr gemessen werden. Geplant ist die Ausrüstung vorhandener Fahrzeuge, sowohl eines Elektrofahrzeugs als auch eines verbrennungsmotorisch angetriebenen Fahrzeugs. Neben den Reifentemperaturen werden weitere Betriebs- und Umgebungsbedingungen erfasst. Über Versuchsfahrten im realen Verkehrsumfeld - insbesondere auch mit für Elektrofahrzeuge typischen Fahrprofilen – sollen dann die real auftretenden Reifentemperaturen identifiziert und klassifiziert werden. Hierbei weichen insbesondere die Einflussgrößen Fahrbahnbelag, Fahrgeschwindigkeit, Geschwindigkeitsänderungen und Anströmung durch den Fahrtwind von den Prüfbedingungen nach ISO 28580 ab.

2. Quantifizierung der Einflussgrößen Fahrbahnbelag, Fahrgeschwindigkeit und Fahrtwindanströmung

Zur Quantifizierung des Einflusses dieser Größen soll in einem zweiten Schritt im Thermowindkanal der Einfluss der Fahrtwindanströmung auf das Reifenaufwärm– und -abkühlverhalten ermittelt werden, indem bestimmte Fahrzyklen mit und ohne Fahrtwindanströmung simuliert werden. Desweiteren ist geplant, mithilfe eines Rollwiderstandmessanhängers den Einfluss der Fahrbahnoberfläche und der Umströmung des Reifens im Fahrbetrieb auf das thermische Verhalten des Reifens zu untersuchen. Hierzu werden exemplarisch mit dem Anhänger Messungen auf Strecken durchgeführt, die vorher mit den Versuchsfahrzeugen befahren wurden. Daraus kann das in realitätsnahen Fahrprofilen auftretende Temperaturverhalten von Pkw-Reifen abgeschätzt werden.

3. Übertragung der Erkenntnisse auf Reifenprüfstandsmessungen

In einem dritten Schritt sollen die zuvor erlangten Erkenntnisse genutzt werden, um ein realitätsnahes Rollwiderstandsmessprogramm zu entwickeln. Dies betrifft zum einen die in Schritt 1 ermittelten Fahrprofile, die bei der Durchführung der Prüfstandsmessungen berücksichtigt werden. Zum anderen werden die Ergebnisse aus Schritt 2 verwendet, um am Außentrommelprüfstand durch gezielte Luftanströmung und Temperierung Umgebungsbedingungen zu schaffen, aus denen am Messreifen identische Temperaturen wie bei den Messfahrten resultieren. Bei diesen Bedingungen können nun am Prüfstand charakteristische Rollwiderstandsdaten gewonnen werden.

4. Ableitung von praxisnahen Rollwiderstandskennwerten

Ziel dieser Untersuchung ist es, aus den Ergebnissen von Rollwiderstandsmessungen auf dem Außentrommelprüfstand relevante und charakteristische Kennwerte abzuleiten, welche auf den zu erwartenden Rollwiderstand im realen Fahrbetrieb schließen lassen. Der große Vorteil von Prüfstandsmessungen gegenüber den Straßenmessungen sind hierbei die hohe Messgenauigkeit und die gute Reproduzierbarkeit. Aus den Ergebnissen kann schließlich ein Standardmessprogramm für Rollwiderstandsmessungen an Prüfständen resultieren, welches realitätsnähere Ergebnisse als die ISO 28580 liefert und damit eine Basis für die Entwicklung wirksam rollwiderstandsarmer Reifen für E-Fahrzeuge bildet.