Forschungsvorhaben "Automatisiertes mehrdirektionales Fahrwerksystem auf Basis radselektiver Radantriebe (OmniSteer)" : Schlussbericht

  • Autor:

    Frey, M.

    Han, C.

    Rügamer, D.

    Schneider, D.

     

  • Quelle:

    Karlsruher Institut für Technologie (KIT),
    Institut für Fahrzeugsystemtechnik (FAST),
    Teilinstitut Fahrzeugtechnik

    DOI: 10.2314/KXP:1687318824

  • Datum: September 2019

Kurzfassung

Im Rahmen des Verbundprojekts OmniSteer wurde das Ziel verfolgt, ein funktional sicheres, mechatronisches Längs- und Querführungssystem darzustellen und somit omnidirektionale Fahrmanöver zu ermöglichen.

Zur Erreichung der beschriebenen Ziele bedurfte es eines systemischen Ansatzes, bei dem die Konzeptanalyse und der prototypische Aufbau disziplinübergreifend von geeigneter Sensorik zur Umgebungserfassung und -überwachung, Signalerfassung, Trajektorienplanung, Systeme zur Kontrolle und Ansteuerung (Electronic Control Unit – ECU) bis hin zur Aktuatorik in Fahrwerk und Lenkung ganzheitlich durchgeführt wurden.

In Rahmen der Anforderungsanalyse und Spezifikation, bei der alle Partner beteiligt waren, wurden durch Recherchen (Literatur, Patente, normative und gesetzliche Radbedingungen) die Anforderungen für das gesamte Längs- und Querführungssystem, der notwendigen Elektrik-/Elektroniksysteme, der Umfeldsensorik sowie der mechatronischen Subsysteme erfasst und in Spezifikationen umgesetzt. Zudem wurden Use-Cases definiert und daraus neuartige Fahrmanöver abgeleitet.

Bei der Ausarbeitung des mechatronischen Längs- und Querführungssystems mit einem Radeinschlag von +/-90° wurden u.a. Konzepte für die Radaufhängung entwickelt, anhand von definierten Auswahlkriterien bewertet und ausgewählt. Darüber hinaus wurde die Sensorik und Aktorik für das mechatronische Fahrwerkssystem bestimmt und ausgelegt. Letztlich wurde in diesem Arbeitspaket das ausgewählte Konzept weiterentwickelt und konstruktiv umgesetzt.

Im Teilvorhaben des KIT-FAST lag ein Schwerpunkt beim Aufbau von Simulationsmodellen (Modell für die Trajektorien- und Manöverplanung, Modell für Umfeldsensorik und Modell für die Längs- und Querführungssysteme). Insbesondere wurde ein komplexes Fahrzeugmodell (Mehrkörpermodell) für das im Projekt entwickelte neuartige Fahrwerksystem aufgebaut und für die Auslegung und konstruktive Ausarbeitung des Fahrwerkskonzepts genutzt. Hierzu mussten zunächst Möglichkeiten geschaffen werden, die Kinematik der Radaufhängung und des Lenksystems des im Projekt OmniSteer verwendeten Fahrwerkskonzept mit radindividueller Lenkung und einen Radeinschlag von +/-90° im Simulationswerkzeug abzubilden. Hierzu wurde die Matlab/Simulink Simscape Multibody Toolbox genutzt, um die Radaufhängung und die Lenkung als MKS-Modell aufzubauen. Dieses Modell wurde zur Berücksichtigung der Radaufhängungskinematik bei der Radhubbewegung sowie bei der Lenkbewegung benutzt und zusätzlich Lenkmodell in der Simulationsumgebung CarMaker eingesetzt. Zudem wurden Fahrzeugmodelle mit entsprechenden Granularität für verschiedene Regelungsanwendungen (Odometrie-Lokalisierung, Trajektorienfolgeregelung) entwickelt, im Laufe des Projekts angepasst und durch reale Fahrversuche validiert.

Im Bereich Umfeldsensorik übernahm das KIT-FAST die Ausarbeitung eines Odometrie-basierten Lokalisierungsverfahrens, welches die Position und Ausrichtung von Fahrzeug über Gierrate-, Lenkwinkel- und Drehzahlsensoren schätzt. Dieses Odometrie-Verfahren unterstützt die von anderen Partnern verantworteten Lokalisierungsverfahren und trägt dazu bei, die Lokalisierungsgenauigkeit zu erhöhen.

Zusätzlich wurde das Odometrie-basierte Lokalisierungsverfahren hinsichtlich der funktionalen Sicherheit analysiert. Diese Analyse wurde in der Simulationsumgebung durchgeführt, wobei gemessene Sensordaten aus den realen Fahrversuchen verwendet wurden. Beim simulierten Ausfall unterschiedlicher Sensoren zeigte sich, dass das neue Verfahren bei Ausfall eines Raddrehzahlsensors oder eines Lenkwinkelsensors robuste Ergebnisse liefert, selbst der Ausfall von beiden Sensoren an einem Rad kann kompensiert werden. Wenn allerdings der Gierratensensor ausfällt oder mehr als zwei Sensoren ausfallen, kann das Odometrie-basierte Lokalisierungsverfahren keine genauen Ergebnisse liefern.

Zur Darstellung und Validierung der Funktionalitäten wurde ein Demonstratorfahrzeug mit dem mechatronischen Längs- und Querführungssystem konzipiert, konstruiert und aufgebaut. Innerhalb dieses Prozesses sind ebenfalls alle zum Betrieb des Fahrzeugs nötigen Teilsysteme integriert worden.

Zum Projektende konnte der funktionale Nachweis am Demonstrator erbracht werden, dass durch das umgesetzte Radaufhängungskonzept in Verbindung mit der radindividuellen Lenkung und den radselektiven Antrieben die Umsetzung automatisiert gefahrener, omnidirektionaler Fahrmanöver möglich ist. Dabei konnte auch nachgewiesen werden, dass das neu ausgearbeitete Odometrie-basierte Lokalisierungsverfahren die von anderen Partnern verantworteten Lokalisierungsverfahren unterstützt und zu einer deutlichen Verbesserung der Lokalisierungsgenauigkeit führt. 

Im Rahmen des Projektes OmniSteer wurden die Zwischenergebnisse über verschiedene Kanäle veröffentlicht bzw. verschriftlicht. Das Konzept und die Ergebnisse sind in Journals und bei Konferenzen veröffentlicht. Öffentlichkeitsarbeit wurde mit Vorträgen und Messebesuchen betrieben. Die Zielsetzung, den Austausch zwischen Industrie und Wissenschaft zu vertiefen, wurde durch die Betreuung 14 Abschlussarbeiten von Studierenden verfolgt. Auch konnte innerhalb der Projektlaufzeit eine Patentenmeldung zu einem Lenksystem für Fahrzeuge mit erhöhtem Radlenkwinkel beim Deutschen Patent- und Markenamt eingereicht werden.

Der im Projekt gezeigte Umsetzung eines neuartigen Radaufhängungskonzepts in Verbindung mit der radindividuellen Lenkung und den radselektiven Antrieben sowie die demonstrierte Realisierung von omnidirektionalen Fahrmanövern bieten die Grundlage für weitere Forschungsprojekte.

So wurden bereits erste Projektideen ausgearbeitet, die sich mit der Interaktion von Passagieren und autonomen Fahrzeugen befassen und sich der Möglichkeiten des Demonstratorfahrzeugs zur Darstellung nahezu beliebiger Fahrmanöver bedient. Dabei können die Fahrzeuginsassen dann nahezu beliebigen Fahrmanövern mit unterschiedlichsten Bewegungsrichtungen und Beschleunigungen ausgesetzt werden, wie sie bei zukünftigen (autonomen) Fahrzeugen möglich sind und ggf. zu einer Kinetose bzw. Motion Sickness führen könnten. Ziel des Projektansatzes ist die Untersuchung, inwieweit etablierte psychophysiologische Methoden aus den Neurowissenschaften in das Monitoring des realen Fahrgeschehens übertragen und dort technisch implementiert werden können. Dabei ist besonders zu berücksichtigen, dass neben dem Fahrer selbst auch die anderen Insassen betrachtet werden müssen. Die neurophysiologische und –psychologische Erfassung von Aufmerksamkeitsleistungen bei Fahrzeuginsassen kann mittel- bis langfristig in der Entwicklung von Fahrzeugsystemen resultieren, die das Wohlbefinden der Insassen (z.B. Vermeidung von Motion Sickness, Steigerung des thermischen Komforts) steigert und so ihre Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit optimiert.